Sauerteig: Vinschgerln
Fotos: Jörg Wilczek
Ich arbeite im Weinhandel und bin schon seit einigen Jahren den Vins Naturels verfallen – da war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ich mich auch am Sauerteig versuchen würde. Denn wenn gesunde Ausgangsprodukte und eine natürliche Gärung ohne Manipulation und Zusatzstoffe die besten Weine ergeben, wieso sollte das dann beim Brot anders sein? Inspiriert von bereits backenden Freunden und einem Marmite-Symposium übers Fermentieren, wollte ich es also auch wissen. Im Buch „Beyond Nose to Tail“ von Fergus Henderson fand ich ein Rezept für die eigene Sauerteig-Mutter, und so rührte ich Mehl, Wasser, etwas Joghurt und ein paar Rhabarber-Abschnitte zusammen und wartete. Nach ein paar Tagen kam tatsächlich Leben in die Sache – das war magisch! Die darauf folgenden Monate waren eine schöne Zeit des Entdeckens, und das Brotbacken ist zu einer richtigen Passion geworden. Geholfen hat mir dabei Youtube, vor allem aber der „Plötzblog“ von Lutz Geissler und seine App „Brot selber backen“ bei der Chefkoch Academy. Mittlerweile backe ich etwa zweimal die Woche. Meine Sauerteig-Mutter kriegt meist ein Gemisch aus verschiedenen Mehlen, ab und zu ergänzt durch einen Schluck Olivenöl oder etwas Salz. Ich nenne sie einfach Mama.
Allheilmittel Sauerteig
Meistens backe auch ich helle Weizensauer-Brote, wie etwa den von Benno vorgestellten Country Loaf nach Chad Robertson. Aber mittlerweile ist der Sauerteig so eine Art Allheilmittel in meiner Küche geworden ... Hausgemachte Pizza? 12 Stunden fermentierter Vorteig bringt Dich auf ein neues Level! Spätzle vom Brett? Immer mit einem ordentlichen Löffel Sauerteig! Hamburger-Buns? Panettone? Pancakes? Nicht ohne Sauerteig!
Als ich auf dem Plötzblog ein Rezept für Vinschgerln entdeckte, war mein innerer Österreicher herausgefordert. Wie der Name suggeriert, kommen die Vinschgerln aus dem Südtiroler Vinschgau, sind aber auch im Nordtirol bestens bekannt. Mein Vater ist Tiroler, und an den hübschen, würzigen Brötchen hängen eine Menge Kindheitserinnerungen an Ski- und Wanderferien. Jedes Salzstangerl habe ich schon damals zugunsten eines Vinschgerls liegen lassen. Das Gemisch von Weizenmehl und Roggen (ein Teil Vollkorn oder Schrot) macht die Vinschgerln so urig. Der Kick kommt aber eindeutig vom Schabzigerklee: Während das herbe Kräutchen den gleichnamigen Glarner Käse zur tickenden Zeitbombe in jedem Kühlschrank macht, wirkt es bei den Vinschgerln wahre Wunder mit seinem kräftigen Duft nach Heu und Sommerwiese.
Etwas Hefe darf auch mal sein
Im Hauptteig wird für die Vinschgerln immer auch ein bisschen Hefe mitverarbeitet, das zieht sich durch alle Rezepte, die ich bisher kenne. Puristen können die Hefe aber gut weglassen, dafür etwa zwei Stunden mehr für die Gare der Brotlinge einrechnen. Die Kombination von Sauerteig und Hefe wird übrigens auch bei anderen Brottypen praktiziert und ist nicht verpönt. Chad Robertson berichtet in seinem Buch „Tartine Bread“, dass die besten Baguettes Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden seien, als kommerzielle Brothefe gerade erst in Umlauf kam: Ein lange gereifter Vorteig aus Anstellsauer und ein mit sehr wenig Hefe ebenfalls lange gereifter Poolish (Hefevorteig) wurden im Hauptteig vereint. Der „saure“ Vorteig sorgt für den Geschmack und die lange Haltbarkeit des Brotes. Auch der Hefevorteig kann viel Geschmack einbringen, wenn der Hefeanteil gering ist und die Gare entsprechend länger. Das kann ich aus eigener Erfahrung mit Pizzateigen bestätigen. Auf jeden Fall macht der Hefevorteig den Hauptteig lockerer und etwas milder.
Kaum Aufwand, Riesensuchtfaktor
Mein Rezept ist eine etwas abgeänderte Version des Vinschgerl-Rezepts von Lutz Geissler. Ich habe den Anteil an versäuertem Vorteig etwas angehoben und gehe mit der Hydratation (Verhältnis von Wasser zu Mehl) etwas höher, nehme dafür aber weniger Hefe. Da Teige mit hohem Roggenanteil kein Klebergerüst aufbauen können, muss (und darf) man gar nicht lange kneten, es genügt, die Zutaten gut von Hand zu mischen. Auch das Formen der Vinschgerln ist einfach. Der Vorbereitungs- und Backprozess passt in fast jeden Tagesablauf, der Nettoarbeitsaufwand beträgt etwa eine Stunde.
Frisch (noch warm mit Butter und Honig) müssten die Vinschgerln übrigens unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Meist sind sie im Nu verschlungen. Dank dem hohen Wasseranteil und dem Vollkornmehl können sie aber drei Tage und länger halten und dabei noch an Charakter gewinnen. Ein guter Kombinationspartner ist Speck, Käse ist auch nicht verkehrt. Mein Geheimtipp: in Olivenöl und Salz tunken – auch wenn das, regional betrachtet, eigentlich gar nicht zusammenpassen dürfte.
Das Schöner-Saufen-Backdiagramm für Christoph Pichlers Vinschgerln.
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