Wermut: Das kleine Glück zur Blauen Stunde
Fotos: Jörg Wilczek
Ein verstärkter und gewürzter Wein mit vielen Geschmacksnuancen: Das ist Wermut, derzeit wieder vermehrt im Gespräch und neustens sogar Namensgeber eines Lokals in Zürich.
Wer sich gerne in szenigen Lokalen aufhält oder ein überzeugter Wirkungstrinker ist (es soll da eine beträchtliche Schnittmenge geben), kam in den vergangenen Jahren nicht am Negroni vorbei; einem der souveränsten und beliebtesten Cocktails, weil er gleiche Mengen von nur drei Komponenten zu harmonischem Geschmack und perfektem Trinkfluss vermählt: Gin, Bitter und Wermut. Diese letzte Komponente macht sich derzeit auf, städtisch gepolte Gourmet-Gaumen zu erobern.
Wie Wermut gemacht wird
Als verstärkter Wein besteht Wermut in der Regel aus einem in Alkohol angesetzten Kräuter-Auszug, der gesüsst und mit Wein aufgestockt wird. Bei der Komposition der Kräutermischung für das sogenannte Mazerat sind die Hersteller recht frei, aber natürlich gehört getrocknetes Wermutkraut so zwingend dazu wie Wacholder zum Gin. Martini Bianco, das Getränk, mit dem sich Generationen ihren ersten Schwips angetrunken haben, ist der bekannteste Exponent dieser Kategorie, dicht gefolgt von Cinzano; Industrieprodukte ohne viel Charakter, aber desto mehr Zucker. Seit einiger Zeit machen wiederbelebte oder neue Labels auf sich aufmerksam (Carpano Anticha Formula, Mancino). Der Verfasser dieses hat 2015 mit dem Vermouth de Gents seine eigene Interpretation des Themas an den Start gebracht.
Was ist Wermutkraut?
Das Wermutkraut (Artemisia Absinthum) ist eines der wichtigsten Würz- und Heilgewächse des Alpenraums, schon die Heilkundlerin Hildegard von Bingen schrieb vor über 1000 Jahren darüber. Die «Grüne Fee» oder Absinth wird aus einem Mazerat von Wermut destilliert; Udo Pini schreibt in seinem «Gourmethandbuch» (Könemann Verlag): «Aus dem kraftaromatischen Beifussgewächs und uralten Arzneikraut wird von jeher ein trinkbares, stets eher bitteres Kurmittel bereitet, das seit Jahrhunderten und bis heute nachgesüsst, weitergewürzt und gefärbt wird.» Wermut ist hingegen nicht der «kleine Bruder des Gin», wie der Trend woanders herbeizureden versucht wurde, denn Herstellung, Alkoholgehalt wie Trinkfluss sind doch etwas völlig anderes. Es gibt übrigens verschiedene Unterarten der Artemisia, die sich geschmacklich unterschiedlich auf den fertigen Wermut auswirken. Im Vermouth de Gents finden sich neben Wermutkraut auch Schafgarbe, Cassiarinde, Orangenschale und zwei drei Gewürze, die ich hier natürlich nicht preisgebe.
Woher kommt der Brauch des Vermouth-Trinkens?
Als Urheber der Idee, aus pharmazeutischen Kräutern einen «magenöffnenden» verstärkten Wein zu brauen, gilt Antonio Benedetto Carpano, dessen Name einer von jenen ist, der lange nicht mehr auf der Szene anzutreffen war, heute aber als «Antica Formula» wieder Erfolge feiert und einer der ersten Brands ist, der vom neuen Trend zu Boutique-Vermouths profitieren konnte. Kreiert wurde die Kategorie der verstärkten Aperitiv-Weine seinerzeit eigentlich, um zweifelhaften Weinqualitäten mittels bitteren Kräutern und etwas Zucker auf die Sprünge zu helfen. Sie basierten sämtlich auf alten Apothekerweinen, die man gegen allerlei Zipperlein zu sich nahm, bevor wirkliche Medikamente erfunden wurden.
Wermut verkörpert das kulinarische Erbe des Königreichs Sardinien, welches vor der Gründung Italiens die französisch-italienischen Alpen sowie die Insel Sardinien umfasste, wo Kräuter und Reben die Menge vorhanden waren und eine wachsende Mittelschicht sich vom adligen Savoir-Vivre inspirieren liess – Vermouth-Weine dienten als Appetitanreger und unverfängliche Art, schon vor dem Essen etwas Alkohol zusich nehmen zu können.
Wie geniesst man Wermut?
Wermut wird wie Wein degustiert. Fortgeschrittene versuchen, die Trauben der Grundweine herauszuschmecken, es macht aber schon Spass, die beigefügten Gewürze und Kräuter zu definieren. Wermut ist recht zuckerhaltig und man trinkt davon selten im Übermass; es ist besonders spannend, verschiedene Hersteller zu vergleichen. Man achtet am besten auf die Nuanciertheit des Ausdrucks, welchen die Kräuter im Endprodukt finden, auf den angenehmen Trinkfluss, auf nicht übertriebene Süsse.
Dem Genuss von Wermut in der Bar steht leider der meist exorbitant hohe Preis entgegen, denn man bekommt in der Regel um die 4 cl Getränk für einen verrückt hohen Preis, wenn man bedenkt, was eine Flasche für die Gastronomie kostet (die Gastro-Preise liegen auch bei edleren Produkten um die 25 Franken). Aus einer Siebendeziflasche bekommt man die bekannten 17 Drinks heraus und bei einem Preis von 9 Franken pro Glas eine Nettomarge von läppischen 512%. Ist der Barkeeper grosszügig, gibt’s ein bisschen mehr, aber seien wir ehrlich: Der süsse Wein ist viel zu süffig, als dass man dieses Gläschen nicht in zwei Schlucken hinter der Binde hätte.
Das ist wohl der hauptsächliche Hinderungsgrund für einen Triumphzug von Wermut in den Bars. Es gibt nämlich mittlerweile ausgesprochen tolle Produkte. Sie stammen aus Spanien (Vermouth BCN, Vermouth Lustau), Frankreich (Quintiniye) und Deutschland (Belsazar), und natürlich auch aus der Schweiz (Atala aus dem Wallis und Isotta aus Winterthur). Mir persönlich schmecken die Spanier am besten. Warum? Weil man in ihnen die tief verwurzelte Weinkultur ihrer Länder und die sonnenverwöhnten Kräuter so richtig schön herausschmeckt. A propos Wein: Der Schweizer ist ja am glücklichsten, wenn er über Wein schwadronieren darf. Dem kommt entgegen, dass immer mehr Wermut-Hersteller die Traubensorten ihrer Grundweine oder zumindest die genaue Herkunft angeben. Schöner Saufen empfiehlt deshalb, Wermut vornehmlich zuhause zu geniessen, zumindest, bis sich im Bereich Preisgestaltung ein Wandel vollzogen hat (dazu mehr weiter unten).
Neue Welle rollt aus Spanien an
Wie so mancher Kulinarik-Trend lässt sich die erneuerte Wermut-Kultur besonders gut in Spanien beobachten. Bereits vor fünf Jahren eröffnete Albert Adrià, Bruder des zur Kulinarik-Legende avancierten Ferran Adrià mit «1900» eine charmante «Vermuteria». Das Konzept: Simple Vermouths werden zu feinsten Tapas gereicht, die grösstenteils aus Konserven stammen und trotzdem unglaublich lecker sind, weil konsequent auf beste Qualität geachtet wird. Eine eingedampfte Version dieses eher edlen Lokals nennt sich «Morro Fi» (aus dem Katalanischen frei übersetzt «feines Schnörrli»), ebenfalls in Barcelona. Hier hat ein Grafikdesigner auf rund 20 Quadratmetern Fläche eine Vermouth-Bar eingerichtet mit zeitgenössisch bedruckten Flaschen, Vermouths verschiedener Preisklassen – manche in Bügelflaschen, manche in 1.5-Liter-PET-Flaschen) und kleinen Happen aus der Konservendose. Vermouth wie Konserven gibt es als Geschenkpacks oder Instant-Party-Sets in der Tüte zum Mitnehmen. Jeden Abend zur blauen Stunde drängen sich die Gäste an der kleinen Bar, bestellen ihren Vermouth und ein paar Sardellen und Oliven dazu und geniessen den Geschmack ihres mit einem alkoholischen Kräuterauszug aromatisierten, gesüssten Weines und die vollmundig schmeckenden «Salazones» (eingelegte Produkte). Wie immer bei beliebten Phänomenen haben die Spanier dafür gleich ein Wort erfunden; «el Vermuteo» umschreibt die Kultur des Aperitivs an der Wermutbar. «Die Uhrzeit des Beginns ist immer klar, der Zeitpunkt des Endes ist offen», schrieb Kulinarik-Autor Abraham Rivera in Spaniens Nationalblatt «El Paìs». Mit dem «La Mundana» eröffneten tolle Köche in Barcelona eine tolle Vermuteria Gastronomica, wo man nach dem süss-herben Apero fantastische kleine Gerichte und Grilladen aus dem Holzkohle-Ofen geniessen kann.
Zürich ist mit dabei
In Zürich war die Bar Old Crow von Markus Blattner ein Vorreiter der erneuerten Wermut-Kultur; Blattner war schon immer ein Freund des Americano und seiner Abwandlungen. In Italien mischt man übrigens auch mal Bier und Wermut, das gute alte Soda ist ebenfalls ein hervorragender Begleiter des Würzweines. In der Cinchona Bar (25Hours Langstrasse) wurde eine alte Idee aus den Fünfzigerjahren wiederbelebt, nämlich Gin & It – ganz einfach zwei Teile Gin mit einem Teil Wermut, ohne Zugabe von Campari oder Ähnlichem (ein paar Tropfen eine Bitter-Essenz sind natürlich willkommen). Gin & It ist eine hervorragende Sache, aber vielen «Mixologen» wohl schlicht zu anspruchslos. Deshalb Shoutout an die Cinchona-Bar, denn dieser Drink ist geschmacksphysiologisch sehr schlüssig – der Zucker des Wermuts wird mit Alkohol verdünnt und hebt die Botanicals im Gin hervor, die Kräuter im Wermut kommen dank dem Alkohol schön zum Tragen.
Wie einleitend gesagt, wird landauf, landab dort auf besonders erlesenen Wermut geachtet, wo gerne Negroni ausgeschenkt wird. Mitte Januar 2019 hat nun jedoch ein Lokal eröffnet, das sich ganz direkt Wermut nennt. Konzipiert wurde es von Kaspar Fenkart (Sport Bar, Central Bar) und Marius Frehner (Gamper). Die beiden Unternehmer wollen in ihrem Lokal an der Neugasse im Kreis 5 den Vermuteo im Stil von Barcelona zugänglich machen und lassen zu diesem Zweck in der Schweiz eine eigene Wermut-Rezeptur herstellen (Rot und Weiss, Liter 28 Franken). Das Produkt wird im Wermut glasweise ausgeschenkt statt nur im kleinen Aperogläschen; es werden kleine Gerichte zum Picken serviert, um die Gäste auf die anspruchsvollere Küche im hinteren Teil des früheren RiffRaff-Bistros einzustimmen. All dies dürfte den Genuss des verstärkten Weines zumindest bei einer städtischen Zielgruppe rasch nach vorne bringen. Das Produkt von Wermut ist bei JB Labat erhältlich, wie auch die anderen erwähnten Marken.
HG Hildebrandts Wermut findet Ihr im Shop von Gents. Vielen Dank an die Widder-Bar für das Hosting des Fotoshootings.