Sauerteig: It's alive!
Fotos: Jörg Wilczek
Heinz schläft im Kühlschrank. Und das schon seit zwei Jahren. Wach ist er eigentlich nur am Wochenende, denn dann wird gebacken. Heinz ist mein Sauerteig. Korrekt wäre die Bezeichnung Anstellsauer, denn erst wenn Heinz mit Mehl und Wasser gefüttert wird, erzeugt er aus dem Gemisch einen Sauerteig. Heinz ist meine Starterkultur, der Ursauerteig, und hat schon fast ein Jahrzehnt auf dem Buckel. Ich selbst bekam diese Bakterien- und Hefekultur von einem Freund aus Köln, der wiederum bekam sie von seiner Mutter. Die wiederum von einer Freundin und dann verliert sich die Spur. Eigentlich unglaublich, dass dieselbe Starterkultur durch die einfache Zugabe von Wasser und Mehl über einen so langen Zeitraum vermehrt werden kann. Wenn man sie hegt und pflegt, entstehen zum Teil wahre Dinosaurier. Zumindest erzählt man sich, dass in deutschen Bäckereien mit Sauerteigen gearbeitet wird, die Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte alt sind. Die Anstellkultur muss gepflegt werden, regelmässig gefüttert und verbacken. Da überlegt sich der Sauerteigbesitzer schon mal sehr genau, ob und wann er überhaupt in die Ferien fahren kann. Es geht die Sage, dass die Liebe zum Sauerteig manchmal so gross ist, dass daran sogar Beziehungen zerbrechen.
Faszinierend!
Sauerteig übt nicht nur auf mich, sondern auf viele Menschen in meiner Umgebung eine unglaubliche Faszination aus. Die Begeisterung für diese ursprüngliche Art des Brotbackens ist weltweit spürbar und offenbar ein Trend. Selbst gebackenes Sauerteigbrot gehört in Sternerestaurants mittlerweile zum guten Ton. Und in Zürich kaufen Vegetarier den Fleischessern plötzlich in den Brockenhäusern die Bräter vor der Nase weg, weil sich darin besonders gut backen lässt. Jeder Sauerteigbesitzer hat ganz bestimmte Vorlieben. Die Diskussion beginnt schon damit, welche Mehlart man wählt, Weizen oder Roggen, vielleicht sogar Dinkel. Die Vorstellungen vom perfekten Sauerteigbrot sind sehr individuell und könnten zum Teil nicht unterschiedlicher sein. Kompakt deutsch oder luftig französisch, viele Wege führen nach Rom. Sauerteig ist Opium fürs hedonistische Volk und eine Wissenschaft für sich. Die Methode selbst ist uralt, wurde 79 n.Chr. zum ersten Mal schriftlich erwähnt, trat über die Jahrtausende in den Hintergrund und erlebt jetzt ihre Renaissance. Wilde Hefen und Bakterien sind wieder en vogue, und das, obwohl heute niemand mehr darauf angewiesen ist. Ganz im Gegensatz zu den Bäckern und Hausfrauen im 18. Jahrhundert. Denn erst Ende eben jenes Jahrhunderts wurden die ersten industriell hergestellten Hefekulturen eingeführt und vereinfachten den Backprozess immens.
Terroir Sauerteig
Wie die wilden Hefen und Bakterien in den Sauerteig kommen? Da gibt es verschiedene Theorien. Meine eigene bezieht sich auf die Umgebung zuhause, die Menschen, denn Hefen und Bakterien schwirren überall in der Luft herum, sitzen auf uns, unseren Händen, einfach überall. Ein Sauerteig wäre damit also auch so eine Art Terroirprodukt, etwas, das seine Herkunft zeigt. Deshalb sind die Eigenschaften und Backergebnisse wohl auch so individuell. Genau aus diesem Grund werden wir uns dem Thema Sauerteig in einer Serie widmen. Wir werden die Basics erläutern und Sauerteigverrückte treffen, die uns ihre Lieblingsrezepte vorstellen. Schöner Saufen beginnt nämlich schon bei einem guten Brot.